In manchen Nächten glaubst du, gaga zu werden.
Wer denkt, dass eine Notaufnahme ausschließlich Notfällen vorbehalten ist, irrt. Denn dann wären wir ja wieder bei der berühmten Frage: Wer ist ein Notfall?
Alle die kommen, sind ja schließlich mühselig und beladen und krank – also gefühlt. Seit Wochen. Und man weiß ja nie, ob nicht doch was ernsthaftes dahintersteckt. Mimimimi.
Das gilt es dringend abzuklären.
Gerne nach Mitternacht.
Eine kleine Auswahl:
„Ich hab seit einer halben Stunde einen steifen Hals. Tabletten? Ach nein. Ich nehme nicht so gerne Schmerzmittel. Haben sie nicht eine Spritze, die hilft?“
„Ich habe seit vier Tagen keinen Stuhlgang. Wenn ich in die Apotheke gehe und mir ein Klistier kaufe – kann ich dann wieder kommen und sie geben es mir?“
„Ich fühle mich seit drei Wochen nicht so gut. Jetzt hat mein Verlobter beschlossen – so geht es nicht weiter! Das Antibiotikum, dass ich eine Woche genommen habe, hat auch nichts geholfen.“
„Ich hab seit drei Monaten ein unangenehmes Ziehen im Leib. Das möchte ich jetzt abklären lassen.“
„Meinem Sohn geht es seit 2 Stunden so schlecht. Er hat eine fürchterliche Erkältung ( Der Sohn, 23 Jahre, steht daneben und schnieft in sein Taschentuch.) Was sollen wir nur tun?“
Nun – es ist bei vielen Menschen so, wie mal ein Mechaniker sagte, der sich den Finger prellte: „Ich kenne mich halt nur mit Autos aus. Und nicht mit meinem Körper. Ich weiß nicht, was ich da machen soll!“
Das hörst du dir alles an und denkst nur noch: ALTA!
Weil wir aber Profis sind, verfallen wir nicht in Schreikrämpfe und Rangeleien, sondern machen. Und tun. Und helfen. Und messen Fieber. Und nehmen Blut ab. Und machen ein Röntgenbild. Und kleben Pflaster. Und geben meinetwegen auch Klistiere.
Aber innerlich brodelt es. Wie in der neuen Kenzo Werbung. Und dann läufst du los, wie die Frau in Grün: Schwestern am Rande des Wahnsinns.
Das sind die Menschen, die Notaufnahmen verstopfen. Sie verursachen Kosten in Millionenhöhe (im Krankenhaus gibt s die Maximalversorgung. Oh ja. Wir sichern uns ab. Aus Gründen. Da kommt es dann auch schon mal zu solchen Äußerungen: „Aha. Der Patient hat keine Entzündungszeichen – sicherheitshalber geben wir ihm ein Antibiotikum mit!“)
Das sind die Menschen, die scheinbar das Denken ausgeschaltet haben. Man kann ja nicht krank sein und gleichzeitig denken.
Es sind vor allem Menschen, die scheinbar keine Mutti hatten, die noch weiß: Grippe dauert. Schnupfen geht vorbei. Bei Muskelkrämpfen hilft Magnesium. Kommt ja schließlich oft genug in der Werbung. Selbst auf RTL. Verstopfung ist übel. In der Apotheken Umschau gab s neulich Tipps und Tricks. Gut – die Rentnerbravo lesen nicht alle.
Die einen gogglen zu wenig bis gar nicht. Die anderen zu viel: „…nicht, dass ich einen Darmverschluss habe. Oder Krebs.“
Was treibt Menschen gerne nachts aus ihren Betten, weil sie sich seit Wochen unwohl fühlen? Bequemlichkeit? Faulheit? Dummheit? Ahnungslosigkeit? Keinen Bock auf lange Wartezeiten jenseits der zwei Stunden? (Und ja. Ich weiß: einen Termin beim Facharzt zu bekommen ist mehr als schwierig. Bei akuten Beschwerden ist es da auch kein Problem, in eine Notaufnahme zu kommen.)
„Ach – der Hausarzt war nicht so dolle.“
„Ich habe keinen Hausarzt.“ „Aber sie fühlen sich seit Wochen nicht gut. Wäre das nicht einmal ein guter Grund gewesen, sich einen zu suchen?“ „Ich komm lieber hierher!“
„Der Hausarzt hat Urlaub und die Vertretung kenn ich nicht!“
Jetzt. Nach Mitternacht. Zur Abklärung in 3 -2-1! Go!“
Notaufnahme. Menschen in Not. Notfälle. Akut. Hm. Ich fühle mich nicht. Ich glaub, ich bin ein ganz schlimmer Notfall.
Nein. Seid ihr nicht. Euch geht es nicht gut – aber ihr seid keine Notfälle.
Als medizinische Notfälle gelten im Rettungswesen insbesondere solche Fälle, bei denen es zu einer bedrohlichen Störung der Vitalparameter Bewusstsein, Atmung und Kreislauf oder der Funktionskreisläufe Wasser-Elektrolyt-Haushalt, Säure-Basen-Haushalt, Temperaturhaushalt und Stoffwechsel kommt. Ohne sofortige Hilfeleistung sind erhebliche gesundheitliche Schäden oder der Tod des Patienten zu befürchten. Im Mittelpunkt der Ersten Hilfe steht die Sicherstellung der Vitalfunktionen (Bewusstsein, Atmung und Kreislauf). Quelle: Wikipedia
Wenn man mit diesen Menschen redet, sind sie ratlos. Vollkommen überfordert mit Schnupfen, Verstopfung, Rückenweh, Zerrungen, Pillepalle. Hilf- und ahnungslos.“Ich hab Angst, dass ich eine Blutvergiftung bekomme.“ „Aber der Hausarzt hat ihnen doch ein Antibiotikum verschrieben, dass sie seit drei Tagen nehmen.“ „Ach – das hilft wohl dagegen?“)
Woher kommt das?
Ich hab keine Ahnung.
Wir sind die am besten informierteste Generation, die es gibt. Die grundlegenden Dinge stehen aber offensichtlich nicht im Internet- wie z.B auf den Köper hören. ( „Ich hab seit zwei Wochen Fieber, wollte aber unbedingt noch den Halbmarathon mitlaufen. Aber das Fieber ist immer noch da!“ – 3.20 Uhr)
Freunde – wir helfen gerne. Aber manchmal möchtest du in die Seife beißen – angesichts all dieser Menschen. Da glaubst du wirklich, du wirst gaga.
Damit vertreibe ich meine Zeit in Nachtschichten. Ich spiele die Mutti, die die Menschen offensichtlich nicht hatten. Neben all denen, die wirllich Hilfe benötigen und „richtig“ krank sind.
Ich lese deinen Blog aufgrund unserer Geschichte mit sehr gemischten Gefühlen. Ich war ja so gaga zu spät zu gehen. Weil mich die Kinderärzte davor immer zu gaga hielten um sich mit meinem Kind zu beschäftigen. In der Notaufnahme haben wir noch mehrere Stunden gewartet. Mittwoch Nachmittag …
Erst als unser Kind dran war fiel auf, dass ein HB von drei Komma schnelleres handeln erfordert hätte.
Ich finde diese balance zwischen verrückt sein weil zu viel gehen und zu wenig gehen ganz schön schwer und werde mir meinen Fehler nie verzeihen, verstehe aber auch nicht dass drei Kinderärzte eine Anämie übersehen haben.
Ja – das versteht man wirklich eher nicht.
Wir hingegen haben keine Kinderklinik, sonderen auschließlich Erwachsene. Kinder sind da noch einmal gesondert zu sehen. Definitiv.
Bei maanchen der beschriebenen Geschichte weißt du wiederum nicht, ob du lachen, weinen, handeln oder mit dem Kopf auf den Tisch schlagen sollst. Nun. Wir behandeln alle und schicken keinen weg. Manchmal hingegen wäre ein „gesunder Menschenverstand“ wünschenswert.
Ja verstehe ich vollkommen. Das lustige ist halt dass ich zwei Monate in die Kategorie hyperaktive Mutter einsortiert wurde. Ich gehe ungern zum Arzt, nicht bei Schnupfen, nur bei Notwendigkeit. Da klafften dann meine Klassifikation und die der Ärzte auseinander. Die hätten mich erst ernst genommen, wenn ich dauernd auf der Matte gestanden hätte. Habe ich aber nicht weil mir gesagt wurde alles in Ordnung. Nur ein Infekt.
Ich vermute solche Erlebnisse sind es die Leute zu euch mit einem schnupfen treiben 😀
Wobei das Jugendamt und danach gezwungen hat bei jedem schnupfen zum Arzt zu gehen! Kinder in Staatsobhut run mir leid. Sie werden bei jedem schnupfen sofort zu Ärzten gebracht. Auch gern mal zu euch in die Notaufnahme 😉 weil sich die Betreuer absichern wollen. Die Ärzte wollen sich dann absichern und geben Antibiotikum mit. Sehr lustige jugendamtsresistente keime, die sich daraus entwickeln XD
Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht. Wir im Rettungsdienst haben ja den gleichen Scheiß – das kriegt ihr in der Notaufnahme ja auch mit und wir kriegen auch immer mit, wie es bei euch aussieht.
In der letzten „Innerer Vollmond“-Schicht mit meinem Lieblingskollegen (oh, die muss ich auch nochmal verbloggen, die war sehr ergiebig) wurden wir dreimal hintereinander entweder selbst angeschnauzt oder Zeugen, wie die Schwestern in der Notaufnahme angeschnauzt wurden, weil unser Patient (kleiner Junge, SHT, auch für medizinisch Unbedarfte sofort als „Oh fuck, dem gehts gar nicht gut!“ zu erkennen) eher drangekommen ist als die Mittfünfzigerin mit Verstopfung seit ner halben Woche; weil unsere aus ner arteriellen Wunde blutende Patientin direkt drangekommen ist obwohl vier andere Patienten noch wartend im Gang standen; und wie wir hinterher von jemandem, der die Liegendanfahrt mit seinem Privat-PKW blockiert hat, angepöbelt und angegriffen wurden, weil wir mit unserem Patienten UNTER REANIMATION gewagt haben, ihn zuzuparken. Alter!
Dazu kommen noch die ganzen „Notfälle“, zu denen wir jeden Tag gerufen werden, bei denen ich mich genau das auch frage: hatten diese Leute keine Eltern, von denen sie sich abgucken konnten, wie man selbst mit Kinkerlitzchen klar kommt?
Warum rufen uns (also nen RETTUNGSWAGEN) Leute, weil sie Verstopfung haben? Warum erzählen immer noch so viele Leute dem Disponenten, dass sie Luftnot oder Brustschmerz haben, weil sie irgendwo mal gelesen haben, dass dann auf jeden Fall ein Notarzt mitgeschickt wird. 1. Glauben die, dass wir nichtärztliches Fachpersonal nicht mit Kleinigkeiten umgehen können? 2. Glauben die wirklich, dass der Notarzt oder die Notärztin sich wirklich die Zeit nimmt, Bullshit abzuklären, wenn unter falschen Angaben alarmiert wurde? 3. Wie wichtig kann ein Mensch sich und seine Blähungen denn nehmen, dass dafür Rettungsmittel gebunden werden müssen??
Ich habe wirklich Verständnis dafür, dass manche Sachen, die wir eher als „nicht so schlimm“ einstufen, für medizinische Laien bedrohlich wirken, vor allem wenn sie selbst betroffen sind. Aber irgendwann ist die Grenze von „es hat mir Angst gemacht und ich wusste nicht was ich sonst tun soll“ zu „ich bin einfach bequem und außerdem zahle ich genug Steuern und Versicherungsbeiträge!“ überschritten.
Gesunder Menschenverstand für alle!
Eine ernsthafte Selbstbeteiligung an den Kosten würde helfen. Aber man stelle sich vor, dass ein Besuch in der Notaufnahme einfach pauschal 50 € kosten würde ohne Rückerstattungsmöglichkeit. Sterbende kämen trotzdem, der Rest würde auf die Zähne beissen.
Wieder super auf den Punkt gebracht, danke. Doch auch so viel man redet, in die NFP schickt, das MTS erklärt, oder man mit ignoranten Alten oder bildungsfernen Mitmenschen diskutieren muss, warum man mit Befindlichkeitsstörungen länger als bei einem Stemi warten muss, es wird sich nie ändern. Unsere Gesellschaft ist einfach so geworden. Egoistisch, vollgefressen, konsumorient und das Denken Google oder Anderen überlassend.
Naja, die AfD denkt ja immer noch, dass die Kostenexplosion im Gesundheitswesen an den Flüchtlingen liegt…
Die übermässige Nutzung des Notfalls wird auch durch harte Zahlen belegt:
http://desktop.12app.ch/articles/18792536
Sehr nett und treffend geschrieben. .Danke, also bin ich nicht alleine wenn ich denke ALTER, WAS GEHT HIR AB…
Ich war letzte Woche am Samstag mit unserem Kleinen in der Krankenhausambulanz (mit Einweisungsschein des Bereitschaftsarztes bei dem wir vorher waren). Ich war völlig überrascht wieviele Mütter an einem Samstag Nachmittag bei super Wetter mit spielenden Kindern in der Ambulanz sitzen. Zumal es einen kinderärztlichen Bereitschaftsdienst gibt. Wir wurden Gottseidank vorgezogen, weil wir den Schein hatten und der Kleine offensichtlich dehydriert und hoch fiebernd war. Ich hab mich aber auch echt gefragt ob diese Leute sonst keine Hobbys haben.
Ich würde nie und nimmer wagen, wegen irgendwelcher Zipperleins in eine Notaufnahme zu marschieren, noch dazu nachts. Ich kann mir bei den meisten Nullachtfünfzehn-Erkrankungen gut selber recht gut helfen. Und wenn ich wirklich einmal bei einer schlimmen Erkältung, Durchfall, Bauchgrimmen etc. nicht weiter wissen würde – meine Nachbarin ist Ärztin, und meine Hausärztin macht auch Hausbesuche…
Dass die Apothekenumschau Rentnerbravo genannt wird, wusste ich bislang noch nicht! 😆 Das ist herrlich! 😆 Trotz deines ernsten Posts liege ich hier jetzt quer übern Schreibtisch vor Lachen. 😆
Und das ist ja mit das wichtigste: dass man den Humor nicht verliert!