Widersprüche

Das Haar ist rötlich gefärbt, die Lippen prall und mit Lipgloss aufgehübscht. Das geblümte Nachthemd steckt in der „Ausgehhose“. Das Herz klopft schnell. Zu schnell. Der Rettungsdienst bringt nachts um halb drei eine 74- jährige. Sie kichert ein bisschen auf der Liege wie ein junges Mädchen.

Das Herzklopfen kennt sie schon. Das hat sie schon länger. Also schon ein paar Wochen. Aber jetzt dachte sie sich: So kann es ja nicht weiter gehen.

Stimmt. Ein Puls von 170 Schlägen in der Minute ist blöd.

Eigentlich hätte sie auch nichts dagegen gehabt, zu sterben – erzählt sie launig.

Ganz so ernst kann der Plan nicht sein, sonst hätte sie ja den Rettungsdienst nicht gerufen. Aber sterben – so sagt sie – wäre nicht schlecht.

Warum dann also heute mit dem Rettungsdienst in die Klinik?

Der Lebensgefährte ist im Urlaub. Und sie ist die einzige, die den Schlüssel hat. Wie soll er denn sonst in die Wohnung? Wie soll einer in ihre Wohnung, wenn sie tot im Bett liegt und zu riechen anfängt, wenn doch keiner den Schlüssel hat.

Aha. Klingt logisch.

Und überhaupt. Das Gedächtnis wäre so schlecht. Manchmal geht sie zum Hausarzt. (Sie hat es nicht so mit Ärzten *kicherkicher*) Der hat ihr Ginseng verschrieben. Das nimmt die manchmal. „Kann ja nicht gut sein, wenn man immer Tabletten frisst.“

Hat sie sich nicht Ginseng extra verschreiben lassen, damit alles frisch im Oberstübchen bleibt?

Ja schon. Aber ab und zu gönnt sie sich dann doch eine Pause. Wie auch beim Blutdrucksenker. Manchmal nimmt sie dafür halt mehr. Das gleicht sich dann bestimmt aus.

Bestimmt.

Sie kennt sich aus. Sie war früher mal Altenpflegerin. Da hat sie das „im Gefühl“.

Na dann.

Aber eigentlich möchte sie auch sterben, sagt sie mit kokettem Augenaufschlag.

Ja.

Schwester – ich weiß ja, dass es total blöd ist. Man soll ja nicht so viel Geld mit ins Krankenhaus bringen. Da wird ja immer so viel geklaut, wie ich gehört habe. Aber tatsächlich habe ich ganz viel Geld dabei. *kicherkicher* Was mach ich denn nun?

Ich will dann wieder nach Hause! Ach? Heute nicht mehr? Ich dachte, ich kann wieder gehen. Ich wollte ja nur mal nachschauen lassen.

Sie ist ein sehr kommunikativer Mensch. Anders ausgedrückt: sie redete und plaudert und quasselt die ganze Zeit. Morgens um halb drei ist es gut, dass man sich selber wiederum  ausgeplaudert hat. Empathisches Zuhören. Es plätschert am Ohr vorbei und zwischendurch denke ich mir: ALTA! Erbarmen.

Diese ganzen widersprüchlichen Aussagen.

„Sie sind eine Frau voller Widersprüche“, sage ich zu ihr. Sie lächelt geschmeichelt. *kicherkicher*

Eineinhalb Stunden später war der Puls tiptop, der Blutdruck ebenso. Zeit ins Bett zu gehen.

Jäckchen um. „Ich bin so verfrohren *kicherkicher*. Das ist bestimmt schon die Grabeskälte!“,  und ab auf Station.

Auf dem Rückweg überlegte ich mir, ob die Gute noch alle Latten am Zaun hatte, oder einfach nur ein Original ist. Ich war mit nicht ganz sicher und ging eine rauchen.

Als es mir plötzlich die Erkenntnis wie Tabakkrümel aus der Kippe fieL

Die Kicherqueen hatte definitiv alle Latten am Zaun. Es ist einfach unser Leben, das oft so widersprüchlich ist.

Wir rauchen, obwohl wir wissen, dass es wenig gesundheitsfördernd ist. Wir grillen die Sau lecker knusprig, obwohl wir kleine Tierschweinfilmchen so zuckersüßniedlich finden und keines Ferkels Tod verantworten wollten. Wir wissen, das unsere Zeit begrenzt ist und verbringen soviel davon mit unnützem Bullshit und Ärger, Kummer und Sorgen. Wir lieben Menschen, die uns nicht gut tun und wollen von allem zuviel. Und wenn wir endlich „alles“ haben, ist es auch nicht in Ordnung. Wir lieben in einem Augenblick unseren Beruf über alles und können gleichzeitig die Augen verdrehen. Wir jammern über unser Hüftgold, während wir genüsslich die Gabel in die Sahnetorte stechen.

Wir/ ich sind/bin genauso widersprüchlich. Tag für Tag. Und dennoch haben wir irgendwie doch alle Latten/ Widersprüche am Zaun. Das hat mir die in die Jahre gekommende Kichermaus wunderbar vor Augen geführt.

Wir sind alle Könige und Königinnen der Widersprüche.

 

garden-737806_960_720
Meistens haben wir doch alle Latten am Zaun. 🙂 Bildquelle: Pixabay

 

 

 

 

 

 

 

Veröffentlicht am
Kategorisiert in Allgemein

Von Ingeborg Wollschläger

Dreißig Jahre war ich Krankenschwester und davon über zwanzig Jahre in einer Notaufnahme beschäftigt. Im März 2020 erschien mein Buch „Die Notaufnahmeschwester - ein Alltag zwischen Leben, Tod und Wahnsinn“ im Penguin Verlag. 2018 kehrte ich der Pflege den Rücken und bin seitdem als Seniorenreferentin für die Betagten meiner Kirchengemeinde zuständig. Gepflegt wird nun nicht mehr: Jetzt wird "gehegt". In Gruppen und Kreisen, Gottesdiensten und bei jeder Menge Hausbesuchen bin ich mit den Seniorinnen und Senioren in engem Kontakt. Mit großem Interesse lausche ich dort den Geschichten der alten und manchmal auch sehr weisen Menschen. Der wahre Luxus meines derzeitigen Berufes ist, dass ich Zeit habe, mir Lebensgeschichten anzuhören. Ich darf nachfragen und bekomme fast immer Antworten. "Nebenbei" bin ich freiberufliche Journalistin für das Radio (u.a. Klassik Radio) sowie Mitglied der Redaktion des „Evangelischen Sonntagblatts aus Bayern“. Ich habe drei Söhne, einen Halbtagshund und liebe Suppe.

9 Kommentare

  1. Habe laut lachen müssen beim Lesen, und dann endet der Test so nachdenklich und weise. Es ist sicher richtig: wir sind alle voller Widersprüche, udn wer mit Mitte 70 noch so vergnügt ist, freut sich offenkundig des Lebens, obwohl er / sie den Tod herbeisehnt.

  2. Mir gefällt dieser pragmatische Ansatz „Sterben geht nicht, weil, wie kommt sonst der Lebensgefährte in die Wohnung?“ Köstlich!

    Sie schreiben, sie haben in einem Krankenhaus gelernt wo „Zucht und Ordnung“ herrschte: 🙂 Erinnert mich sehr an meine Ausbildungszeit zur Krankenschwesternschülerin. Wir bekamen eine Tracht auf den Leib geschneidert und als wir als Unterkurs vom Mutterhaus in die Klinik fuhren, bekam das halbe Haus Schlagseite vor lauter Kucken, als wir neuen „Grauenkittel“ aus dem Bus stiegen. Zum Dienst ging es mit Haube und Brosche … Bis wir uns wehrten!Denn: Haube und Regen beim Hochlaufen von Schwesternwohnheim zur Klinik: Ganz schlecht! Haube verliert! Und Patient im Bett mit Haube hochziehen: ständige Kollision mit dem Bettgalgen. Nach einem Jahr war Schluss mit Haube! An den Wochenenden wurde immer „geteilt“ gearbeitet: das hiess max 4h frei und dann wieder zur Schicht erscheinen. Aber: ich habe nie so tolle, toughe lebenserfahrene Schwestern kennengelernt, die uns viel beibrachten. War anstrengende Zeit aber sehr wertvoll!

    Danke für ihre tollen, tiefen Texte! Herzenstexte!

    Bitte noch lange mehr davon!

    1. ❤ Ähnliches habe ich such erlebt. Und „verbloggt“ in “ Flashback“. Allerdings haben wir das Haubending bis Ende der Ausbildung durchgezogen. Auch so ein Widerspruch: Schmuck ist verboten! Haube und Brosche Pflicht. 😛

      1. jahaaa! Genau! Ich hab die alte Brosche sogar noch! 🙂 Und besonders toll war: das Haubenfalten! Dat Ding haste nie so hingekriegt, wie es sein sollte…

  3. Das ist sehr wahr… Wir stecken alle voller Widersprüche. Und das ist gut so. Wäre es hier auf Erden nicht ganz furchtbar fad, wenn wir nicht so „gestrickt“ wären?

  4. Liebe Notaufnahmeschwester: ich las mir gerade „Flashback“ durch und hatte selbst einen nach dem Anderen! Zeitreise zurück: zu „Eisen und fönen“ zu „Sträusse raus abends!“ auf der Gyn!“ 🙂 Und vor allem: die Ecken (!!!!!) die gefalteten an Bett und Kissen! Besonders der Lehrsatz: „der Flur ist die Visitenkarte einer Station! So wie der Flur, so auch die Zimmer!“ Und wehe man hatte nach der Nachtwache nicht genügend Pat. gewaschen. Wurscht wie heftig die Nacht war. Dann setzte es schonmal ein Satz verbale heisse Ohren! Aber auch: die Lernschwester die uns immer Eis und Saft brachte, wenn wir im Sommer Nachmittags in der „Schule“ schwitzten. Diese wunderbaren älteren Schwestern, die noch vom „alten Schlag“ waren und einen Blick für die Patienten hatten, so ganz ohne Apparatur und immer richtig lagen! Von denen man soviel lernen konnte. Vieles war ätzend, aber Vieles war fürs Leben prägend! Und dieser diagnostische Blick für Patienten, dieses Erahnen wo ein Verlauf hinführen kann! Manche der Schwestern hatten als Jungschwestern noch ganz andere Zeiten miterlebt. Sehr unselige! Und wenn die erzählt haben … Wie Sie schreiben: ein war ein Stück Heimat … wahrhaftig im „… Guten, wie im Schrecklichen … “ Danke für den Blog zurück in fast Vergessenes!!!!!

Kommentar verfassen

%d Bloggern gefällt das: