Wie soll ein Mensch das ertragen

Eine Interpretation

Einmal hatte ich eine Phase, da musste ich Philipp Poisel hören. Nachtschicht für Nachtschicht. Ein halbes Jahr zuvor hätte ich mir lieber ein Ei an den Kopf gehauen, als mir diese Schmachtfetzen im Wimmerton anhören zu müssen. Aber manchmal ändert sich der Geschmack. Fragt nicht. Die Kollegin ertrug es tapfer.

Philipp Poisel sing hier übrigens ein Lied, dass er eigens für die Notaufnahme schrieb – falls ihr es nicht wusstet: Wie soll ein Mensch das ertragen.

Das sind Geschichten aus der Nachtschicht.

 

Stell dich vor meine Mitte.

 (Damit du rotzebesoffen nicht umfällst, weil du – laut zeternd – ausschließlich nur im Klo pinkeln kannst. Da biste hingelaufen. Mit meiner Hilfe. Schwankend. Aber wie heißt die alte Weisheit: Kannst du saufen, kannst du laufen!))

 

Leg dich in jede Figur.
Werf dich in jeden meiner Schritte.

(Hups. Jetzt wärste fast um gefallen – du Spacko. Siehste. Gut, dass ich dich gerade  aufgefangen habe. Und nein. Es nicht nötig, mich deswegen als „Bitch“  zu bezeichnen. Das hab ich doch gerne gemacht. Deinen Bieratmen im Genick und überall. Wie die alten Uraschallvernebler wabern deine Düft um mich herum.  Deine versifften und müffelnden Klamotten an meiner Haut und Dienstkleidung. Gerne geschehen. Ich geh mich dann mal umziehen)

Ich tanz‘ für dich, wohin du willst.

(Fenster auf, weil zu stickig? Fenster auf, weil  zu frisch?  Repeat. Decke? Ach nicht?  Doch nicht weglegen? Doch kalt! Hier bitte schön. Ach – ist doch zu warm. Repeat)

 

Ich geh‘ rüber ans Fenster
um zu sehen ob, die Sonne noch scheint.

(Ver**** es ist stockfinster. Die Nacht ist noch lang)

 

Hab‘ so oft, bei schwerem Gewitter in deine Hände geweint.

(Ich weine bei manchen Menschen ja auch. Mehr so innerlich. Bei manchen Menschen weißt du sofort: Die drehen bei Tetris auch den Würfel. „Wann muss ich das Zäpfchen eigentlich wieder rausholen?“)

 

Wie soll ein Mensch das ertragen?

(Das frage ich mich auch. Ich singe das Lied – vor allem diese Zeile  – sehr gerne auf der Arbeit. Gerne auch mit leichtem Wimmerfaktor in der Stimme. Dann müssen wir lachen. Lachen ist gut, weil dann der Angrybirdknopf platzt.)

 

Dich alle Tage zu sehen
ohne es einmal zu wagen
dir in die Augen zu sehen.

( Manche möchtest du nicht alle Tage sehen. Tust es aber dennoch. Einer, der immer kam, weil er so gerne eine Windel haben wolle. Aber nur von einer Frau. Waren nur Männer anwesend, ging er wieder. Oder die Borderlinerin, die in jeder (!) Nacht kam. Schnitte an Armen. Schnitte am Bein. Schlimm ist das. Es bricht einem das Herz.)

Stell dich vor meine Mitte.
Leg dich in jede Figur.
Werf dich in jeden meiner Schritte.

(Bei den Menschen, die sich selbstverletzen möchte ich mich tatsächlich am liebsten vor sie stellen. Mich in ihre Schritte werfen. „Tu es nicht! Wir finden was anderes!“)

Ich führe dich, wohin du willst.

( …auch zum hundertsten Mal aufs Klo für 17 Tröpfchen. Gerne doch. Das macht mir nix. Ich geh auch mit dir vor die Tür, wenn du eine rauchen musst. Die Nervosität. Ich weiß. Ich führe auch gerne Angehörige ins Zimmer, die im fünf Minutentakt geklingelt haben, um sich zu erkundigen. Dafür mussten wir ständig die Arbeit unterbrechen, sodass es noch länger dauerte. Aber gut. Bei manchen dauert die Hirn- Verständnis-Bearbeitung etwas länger)

 

Wie soll ein Mensch das ertragen?
Dich alle Tage zu sehen
ohne es einmal zu wagen
dir in die Augen zu sehen.

(Wie soll ein Mensch das ertragen, wenn junge, dicke Männer hackedicht eingeliefert werden. Der Bart vollgekotzt. Sabbernd. Häufchen in der Buxe. Aber sofort anstimmen, dass man nach einem europäischen Kongress  anschließend noch ein Schlückchen trinken war. Und überhaupt. Er promoviert gerade! Da willste nicht wirklich in jemandes Augen sehen. Da denkste nur noch: „Soso: Die zukünftige Elite des Landes. Ein Schlückchen trinken. EHER NE GANZE BADEWANNE!“)

 

Zu sehen…
Zu sehen…
Zu sehen…
Zu sehen…
Zu sehen…

(Nein. Manches will ich nicht sehen!)

Könnt ich einen einzigen Tag nur
in meinem Leben dir gefallen
um dann ein einziges Mal nur
in deine Arme zu fallen.

(Manchmal denke ich nachts daran, wie ich morgens nach Hause komme. Schlaftrunkene, bettdeckenwarme Kinder, die man mit nachtschichtkalten Händen wach streichelt. Manchmal schlingen sie die Arme um einen und freuen sich, das Mama wieder da ist.  Hin und wieder gibt es ein Küsschen, dass einem nach all den Gerüchen der Nacht vorkommt wie Vanilleatem – obwohl die Zähne noch nicht geputzt sind. Kakao kochen. Schulbrote schmieren. Auf den Weg schicken. Selber  Zähne putzen. Internet leer lesen. Gute Nacht.

Nur noch drei Stunden und 14 Minuten  – denkt man sich manchmal mit Blick auf die Uhr. Und freut sich wie irre auf das Leben, das einen ohne Kittel erwartet.)

Wie soll ein Mensch das ertragen?
Dich alle Tage zu sehen
ohne es einmal zu wagen
dir in die Augen zu sehen.

Zu sehen…
Zu sehen…
Zu sehen…
Zu sehen…
Zu sehen…

 

 

Von Ingeborg Wollschläger

Dreißig Jahre war ich Krankenschwester und davon über zwanzig Jahre in einer Notaufnahme beschäftigt. Im März 2020 erschien mein Buch „Die Notaufnahmeschwester - ein Alltag zwischen Leben, Tod und Wahnsinn“ im Penguin Verlag. 2018 kehrte ich der Pflege den Rücken und bin seitdem als Seniorenreferentin für die Betagten meiner Kirchengemeinde zuständig. Gepflegt wird nun nicht mehr: Jetzt wird "gehegt". In Gruppen und Kreisen, Gottesdiensten und bei jeder Menge Hausbesuchen bin ich mit den Seniorinnen und Senioren in engem Kontakt. Mit großem Interesse lausche ich dort den Geschichten der alten und manchmal auch sehr weisen Menschen. Der wahre Luxus meines derzeitigen Berufes ist, dass ich Zeit habe, mir Lebensgeschichten anzuhören. Ich darf nachfragen und bekomme fast immer Antworten. "Nebenbei" bin ich freiberufliche Journalistin für das Radio (u.a. Klassik Radio) sowie Mitglied der Redaktion des „Evangelischen Sonntagblatts aus Bayern“. Ich habe drei Söhne, einen Halbtagshund und liebe Suppe.

10 Kommentare

  1. Kurz gefasst : Nach 41 Jahren als Krankenschwester habe auch ich manchmal die Nase voll von Kotze und Co., von Anmache und An-Gelalle. Von Mitgefühl und Mitleid… und trotzdem. Ich bin sehr oft dankbar für den Blick über meinen Tellerand, den Blick in Abgründe, in andere Leben. So ganz anders als der freiwillige, gewährte der Freundschaften. Diese Einblicke haben mir geholfen, trotz mancher Trauer, Ärger, Wut und Erschütterung, mein eigenes Leben nicht nach den falschen Maßstäben ausgerichtet zu haben…

    P.S. Ich hatte auch mal ne Poisell-Phase. Kurz aber heftig. Geht vorbei. LG Gitta

  2. Wie soll ein Mensch das ertragen,
    Du stellst hier aber auch Fragen?
    Der Phillip ist ja mal ganz nett,
    Aber nicht so, wie nach dem Nachtdienst das Bett.
    Er trägt auch nicht gut dazu bei,
    Zu toben und tanzen bis der Kopf wird wieder frei.
    Ich nehme dazu,
    laut und hard und rockig,
    Deutschrock – zum abdrehen,
    Bis der Nachbar wird bockig.

    Es grüßt das OSHchen,
    Die mit recht nicht Poet genannt wird 😉

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