Zwei Wölfe

zwei wölfe

 

Ein alter Indianer saß mit seinem Enkel am Feuerchen. Da sagt der alte auf einmal: „Weißt du, wie ich mich manchmal fühle: Es ist, als ob zwei Wölfe in meinem Herzen miteinander kämpfen. Einer der beiden ist rachsüchtig, aggressiv und grausam. Der andere ist liebevoll, sanft und mitfühlend.“

„Welcher wird gewinnen?“,  fragt der Enkel.

„Der, den ich füttere!“, sagt der alte Indianer.

Ich habe etwas viel mächtigeres als einen Wolf.  Ich habe einen Schattenwolf. Er sieht dem von Jon Snow ähnlich. Er ist groß und stark. Er hat mächtige Zähne und ein flauschiges Fell.

Nachts schläft er vor meinem Bett. Manchmal träumt er wild. Dann rennen seine Pfoten und seine Ohren zucken.  Am Tag  folgt er mir auf Schritt und Tritt. Er ist dicht hinter mir. Ich kann seinen Atem an meinen Körper durch meine Dienstkleidung spüren.

Ich gehe durch die Notaufnahme, in der ich arbeite. Ich sehe die Menschen. Die Patienten mit deren Angehörigen, die Kollegen und die Ärzte. Die Mitarbeiter von der Röntgenabteilung und die vom Labor. Den Reinigungsdienst. Und alle die vielen anderen.

An guten Tagen läuft mein Schattenwolf ruhig neben mir her. Manchmal leckt er an meiner Hand und stupst mich mit seiner feuchten Nase. Ich lege meine Hand auf die der Patienten, die Angst haben. Ich bin geduldig mit aufgebrachten Angehörigen. Ich weiß, welches Instrument der Chirurg möchte, noch bevor er es weiß. Ich reiche dem Internisten Medikamente. Mit meinen Kollegen scherze ich und bin aufmerksam.  Dem Obdachlosen vor der Türe schenke ich meine vorletzte Zigarette. Ich stöpsle das Ultraschallgerät für den Urologen an, helfe Patienten galant auf die Untersuchungsliege (auch wenn sie 180 KG) wiegen) und treffe natürlich immer beim Blutabnehmen. Ich bin die Güte und Barmherzigkeit und das personifizierte Mitgefühl. Der Schattenwolf neben mir legt zufrieden die Pfoten übereinander.

An anderen Tagen knurre ich wie der Schattenwolf neben mir. Ich begehre auf, wenn ich für Sachverhalte schuldig gesprochen werde, für dich ich nichts kann. Wenn jeder meint, er könne mir seinen Ärger aufs Ohr drücken. Wenn manche Kollegen ihre Launen pflegen. Wenn mir einer vor die Füße kotz, obwohl er den Brechsack in der Hand hält und mich dabei herausfordernd anschaut. Wenn es keinem schnell genug gehen kann und ich gesagt bekomme: „Lauf halt schneller!“ Ich lasse den Schattenwolf seine Zähne zeigen, wenn ich vor lauter Trubel nicht mehr denken kann. Ich werde ungeduldig, wenn der Arzt ein Anfänger ist und auf keinen Fall seinen erfahreneren Kollegen holen möchte. In mir kribbelt es, wenn die Schüler  – unschuldig schauend – das 102 EKG verhauen, obwohl ich es zig mal erklärt habe.

„Fass!“, würde ich am liebsten sagen. „Greif zu. Bedien dich. Mach alles kurz und klein!“

Manchmal kämpft dieser Wolf in meiner Brust. Dann weiß er ebenso wenig wie ich, was er tun soll. Schnüffeln und seine kuscheliges Fell zum Streicheln anbieten?  Oder lieber doch seine gewaltigen Zähne zeigen und grimmig knurren: „Bis hierhin und nicht weiter, sonst fresse ich dich?“

Ich bin diejenige, die den Wolf füttert.

Von Ingeborg Wollschläger

Dreißig Jahre war ich Krankenschwester und davon über zwanzig Jahre in einer Notaufnahme beschäftigt. Im März 2020 erschien mein Buch „Die Notaufnahmeschwester - ein Alltag zwischen Leben, Tod und Wahnsinn“ im Penguin Verlag. 2018 kehrte ich der Pflege den Rücken und bin seitdem als Seniorenreferentin für die Betagten meiner Kirchengemeinde zuständig. Gepflegt wird nun nicht mehr: Jetzt wird "gehegt". In Gruppen und Kreisen, Gottesdiensten und bei jeder Menge Hausbesuchen bin ich mit den Seniorinnen und Senioren in engem Kontakt. Mit großem Interesse lausche ich dort den Geschichten der alten und manchmal auch sehr weisen Menschen. Der wahre Luxus meines derzeitigen Berufes ist, dass ich Zeit habe, mir Lebensgeschichten anzuhören. Ich darf nachfragen und bekomme fast immer Antworten. "Nebenbei" bin ich freiberufliche Journalistin für das Radio (u.a. Klassik Radio) sowie Mitglied der Redaktion des „Evangelischen Sonntagblatts aus Bayern“. Ich habe drei Söhne, einen Halbtagshund und liebe Suppe.

5 Kommentare

  1. Super geschrieben! 👍 Mir ist, als beschriebest du mich… ich denke ich habe auch 2 Wölfe in meiner Brust *seufz*… 😔 … aber ich sollte mir die alte Indianerweisheit zu Herzen nehmen… und überlegen, welchen ich füttern will. 😊

  2. Liebe Notaufnahmeschster,

    leider habe ich nirgendwo ein Impressum gefunden, an das ich mein Lob schicken könnte. Der Beitrag ist sehr sehr gut geschrieben. Toll, wie du auf das Eingangsgespräch Bezug nimmst und deine eigene Geschichte entwickelst. Ein schöner und nachdenklich machender Text.

    Mehr davon! J

    Herzlichst, Liz

    1. Vielen lieben Dank. 🙂
      Wie – wo? Man/frau kann ein Lob ins Impressum schicken? Eine Lob- und Tadelseite sozusagen? Da mach ich mich doch mal schlau.
      Ansonsten bin ich „anonym“ unterwegs – falls du das meinst. Das ist einfacher.

  3. Hallo liebe Inge!Absolut spitze! Besonders praegnanter schluss satz..“..ICH bin diejeinge,die den wolf fuettert!“Wie wahr…!ja macht alles nachdenklich .spitze,weiter so und mehr!lg heide

  4. Ich denke mal, dass jeder von uns die zwei Wölfe in sich trägt. Und auch mein „böser“ Wolf würde manchmal nur zu gerne ausrasten und Unheil verbreiten. Zum Glück bleibt es in der Regel dann beim bayerischen Granteln. 😉

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