Gipsen für Anfänger.

Gipsen ist über all die Jahre wie eine gut einstudierte Choreographie. Jede Bewegung ist im Laufe der Zeit und mit der Erfahrung perfektioniert worden. Nichts überflüssiges ist dabei. Jeder Handgriff sitz. Es ist wie ein Tanz. Ein Tanz mit Matsche. Oder wie es eine Kollegin so treffend sagte: „Töpfern für Krankenschwestern“.

Den Patienten bequem hinsetzten lassen. Mit Schwung zum Schrank umdrehen und mit einem raschen Blick den passenden Schlauchverband als erste Lage herausfinden, die richtige Länge abschneiden, das Äußere nach innen drehen. Nebenbei Wasser einlaufen lassen. Nicht zu kalt. Aber um Himmels willen auch nicht zu warm. Zwei Schritte bis zum Maßband. Die richtige Länge abmessen. Merken. Den  Schlauchverband  vorsichtig über das zu gipsende Körperteil stülpen. Blickkontakt zum Patienten. „Alles gut?“ Erneut zum Schrank umdrehen. Kuschelwatte greifen und anwickeln. Bitte nur zwei Lagen. Wasserabweisendes Fleece ohne Zug darum legen. Handschuhe anziehen. Ausfallschritt zur Seite: Gips abmessen, doppelt oder dreifach legen und abschneiden. Mit einer eleganten Handbewegung den Gips genau richtig lange – aber keinesfalls zu kurz – durch das Wasser ziehen.  Ablegen und ausstreichen. Mit einer fließenden Bewegung hoch nehmen und um das gebrochene Körperteil legen. Anmodelieren. 3D -Denken einschalten. Das Gelenk in die richtige Stellung bringen. VORSICHTIG: DAS TUT WEH! Mut zusprechen. Dabei nicht locker lassen. Keine Abdrücke hinterlassen! Falten UNBEDINGT vermeiden! Gips streicheln. Wenn es bröselt und beim Klopfen klingt wie ein gut durchgebackenes Brot, ist der Gips fertig. Vorsichtig aufschneiden. Binde rum. Patienten loben. Gut ist!

Es war aber einmal unendlich schwer – erinnere ich mich  – als ich den neuen Kollegen mit in den Gipsraum nehme. „Komm – wir üben!“

Ich setzte mich hin und lasse mich eingipsen.

Es ist kein Tanz. Es ist harte Arbeit.

Die Schere schneidet nicht richtig. Woher soll er auch wissen, dass bei der Gipsschere der „Schwerpunkt“ ein anderer ist, als bei den normalen Scheren.

Der Schlauchverband ist zu kurz und hinterlässt – obwohl hauchzart – später Abdrücke auf der Haut. Der Gips wird zu erst viel zu trocken, dann zu nass. Die Finger hinterlassen Spuren auf dem Gips. Der Gips schlägt Falten. Es ist ein Elend. Der Kollege seufzt. „Gott  – ist das kompliziert! Das lerne ich nie!“

Ja – es ist ein Elend und unendlich kompliziert. So haben wir alle angefangen. Der Kopf und die Hände sind übervoll mit Informationen, wie man einen anständigen Gips anlegt. Und zwar so, dass es dem Patienten nicht schadet, sondern hilft.

Es ist wie Auto fahren. Wie Schwimmen. Wie Kochen. Wie alles, was wir neu beginnen und noch nie gemacht haben. Wie soll man sich das alles jemals merken können?

Man kann! Irgendwann wird es ein Tanz mit Eleganz. Mit Anmut. Mit einem spitzenmäßigen Gips.

Vielleicht noch nicht morgen. Aber auf einmal quasi über Nacht.

Dann wird mein Kollege einen anderen anlernen. Und er wird sich zurückerinnern, wie das damals war. Unendlich elend und höchst kompliziert. Als der Gips Falten schlug und Fingerabdrücke sich scheinbar nicht vermeiden ließen. JA HERRGOTT- WIE DENN AUCH!!!!

Im stillen Herzenskämmerlein wird er sich freuen, dass er jetzt tanzen kann.

Alles nicht der Rede wert. Easy-peasy. Läuft. Gott-sei-Dank!

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Von Ingeborg Wollschläger

Dreißig Jahre war ich Krankenschwester und davon über zwanzig Jahre in einer Notaufnahme beschäftigt. Im März 2020 erschien mein Buch „Die Notaufnahmeschwester - ein Alltag zwischen Leben, Tod und Wahnsinn“ im Penguin Verlag. 2018 kehrte ich der Pflege den Rücken und bin seitdem als Seniorenreferentin für die Betagten meiner Kirchengemeinde zuständig. Gepflegt wird nun nicht mehr: Jetzt wird "gehegt". In Gruppen und Kreisen, Gottesdiensten und bei jeder Menge Hausbesuchen bin ich mit den Seniorinnen und Senioren in engem Kontakt. Mit großem Interesse lausche ich dort den Geschichten der alten und manchmal auch sehr weisen Menschen. Der wahre Luxus meines derzeitigen Berufes ist, dass ich Zeit habe, mir Lebensgeschichten anzuhören. Ich darf nachfragen und bekomme fast immer Antworten. "Nebenbei" bin ich freiberufliche Journalistin für das Radio (u.a. Klassik Radio) sowie Mitglied der Redaktion des „Evangelischen Sonntagblatts aus Bayern“. Ich habe drei Söhne, einen Halbtagshund und liebe Suppe.

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