95. 254 Euro und 12 Cent – oder: Als ich einmal kurz neidisch wurde

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Das Betrunkene die Notaufnahme aufsuchen (müssen), ist nichts neues. So auch der ehemalige Metzgermeister, der im Bus vom Sessel in einer Rechtskurve flog und sich das Hirn aufschlug. Kommen wollte er nicht – „Also bitte! Hören sie mal. Ich will in mein Bett!“
Blöderweise konnte er sich nicht an den Unfall erinnern. Auch nicht, dass etwas passiert war und schon gar nicht verstand er, was er nun hier machen sollte. „Ausserdem wartet meine Lebensgefährtin daheim an den Bushaltestelle!“ Nach der Blutabnahme war sein Aufenthalt für ihn vorbei und er maschierte schnurstacks, unverzüglich und unbemerkt aus der Notaufnahme und verschwand in der Dunkelheit.
Seinen Rucksack hatte er vergessen. Der gab uns die ein oder andere wichtige Information, die wir der Polizei mitteilen konnten.

Kannste ja nicht machen – einen betrunken, alten Metzgermeister durch die Stadt irren lassen – bis zur heimischen Bushaltestelle oder zum Zuhause, mit Platzwunde auf dem Scheitel – nein nein. Da muss einer kommen, der ihn wieder einfängt und zurückbringt.

Der Rucksack war prall gefüllt, quasi ein Leben in einem Sack: Die Kontoauszüge, die mich hinterrücks umkippen ließen. Dass es Menschen gibt, die unfassbar viel Geld haben – geschenkt. Dass du sie gerade getroffen hast: merkwürdig.
Ein Zettel, auf dem vermerkt war, dass er vor einem Jahr ähnliches erlebt hat: Damals rutsche er in einer Kurve noch blöder vom Platz, sodass er sich gleich den Halswirbel brach.
Und dann natürlich das bescheiden Leben mit Süchten aller Art. Kippen, Schnäpschen. Schokolade.

„Einmal in der Woche hat er Nichtraucher-Training“, erklärte die Lebensgefährtin zwei Stunden später. Mit Polizei und Liebster war er wieder da, inclusive Tupfer mit Desinfektionsmittel auf dem Kopf, dass ich ihm zuvor dort hingelegt hatte.
„Und danach geht er trinken! Immer!“ Sie seufzte tief. „Aber immer nur Jägermeister. Nichts anderes. Einen kleinen halt.“

Man sollte nicht glauben, dass so ein kleiner Jägermeister einen so hohen Promillewert von 1,8 verursachen kann.

„Und einmal die Woche gehe ich mit ihm zu den Anonymen Alkoholikern!“ Sie seufzte wieder. Die Augen stumm auf den Boden geheftet.

Da war es morgens um drei Uhr.

Seit 34 Jahren war sie die Frau an seiner Seite. Unglaublich erfolgreich war er früher einmal als Metzger gewesen. Sogar eine Filiale seines Betriebes hat er eröffnet. Aber leider auch das Saufen angefangen. War halt wohl ein bisschen viel – die ganze Arbeit. Alles. Das war vor 30 Jahren.

Der Kummer, die Sorge, die Resignation und auch ein bisschen Abscheu ist ihr deutlich anzusehen. Nachts um drei ist das im Neonröhrenlicht nicht mehr zu verdecken.
Was man tagsüber noch unter einen mühsam errichten Fassade der Normalität aufrecht erhalten kann, wird hier unbarmherzig im kalten Licht gesehen.

Da nützen einem 95. 254 Euro und 12 Cent nicht viel.

Von Ingeborg Wollschläger

Dreißig Jahre war ich Krankenschwester und davon über zwanzig Jahre in einer Notaufnahme beschäftigt. Im März 2020 erschien mein Buch „Die Notaufnahmeschwester - ein Alltag zwischen Leben, Tod und Wahnsinn“ im Penguin Verlag. 2018 kehrte ich der Pflege den Rücken und bin seitdem als Seniorenreferentin für die Betagten meiner Kirchengemeinde zuständig. Gepflegt wird nun nicht mehr: Jetzt wird "gehegt". In Gruppen und Kreisen, Gottesdiensten und bei jeder Menge Hausbesuchen bin ich mit den Seniorinnen und Senioren in engem Kontakt. Mit großem Interesse lausche ich dort den Geschichten der alten und manchmal auch sehr weisen Menschen. Der wahre Luxus meines derzeitigen Berufes ist, dass ich Zeit habe, mir Lebensgeschichten anzuhören. Ich darf nachfragen und bekomme fast immer Antworten. "Nebenbei" bin ich freiberufliche Journalistin für das Radio (u.a. Klassik Radio) sowie Mitglied der Redaktion des „Evangelischen Sonntagblatts aus Bayern“. Ich habe drei Söhne, einen Halbtagshund und liebe Suppe.

2 Kommentare

  1. Deine Texte hätte ich gern als Buch. Weil es nicht eben diese lustig drollig verkrampften Krankenhaushumortexte sind, sondern weil ich in deinen Worten soviel Gefühl lese. Soviel Ärmel-hoch-krempeln- hilft -ja -nix. Deine Texte bringen mich zum Lachen und Kopfnicken. Zum Nachdenken und manchmal auch zum Weinen. Ernsthaft. Mach ein Buch draus! ❤

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